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hISTORISCHE rOMANE
 

Der Aufbruch

 

Ohne sich anzukündigen, tauchte die Erinnerung auf. Elsbeth roch den Schweiß des schweren Körpers, der sich auf sie wälzte, und sein abgestandener Atem umhüllte sie. Angst löste sich aus den rauen Mauersteinen, schlich kalt an sie heran. Die Kochstelle in der rußgeschwärzten Küche der Burg schickte nur einen Teil des Rauchs durch den Feuerhut in den Sommernachmittag hinaus, der Rest zwang sie, zu husten. Ihre Finger zitterten, der hölzerne Rührlöffel entglitt ihr und fiel leise auf den Lehmboden. Sie bückte sich fast genauso geräuschlos. „Pass doch auf, Tummelinc“, sagte die Köchin. Elsbeth war ihr ausgeliefert, schmeckte bittere Galle, die ihr aufstieß. Natürlich hielt die Magd die jungen Bauernmädchen für ungeschickt und unwillig. Doch das Festbankett für ihren gemeinsamen Herren, den Grafen Meinrad von Oberrot, ließ sich ohne den zusätzlichen Frondienst der Unfreien nicht vorbereiten.
„Verzeih“, flüsterte Elsbeth. Mehr lieferte ihre Stimme nicht ab.
„Ich mach das hier, schneid die Gelben Rüben in dicke Scheiben.“ Die Köchin scheuchte sie mit einer Handbewegung weg vom Feuer an den Holztisch unter dem Fenster. „Beeil dich.“ Ihr Blick wanderte durch die Gitterstäbe in den Hof, niemand war zu sehen. Sie nahm eine Handvoll Möhren aus dem mit Wasser gefüllten Eimer, wischte sie an einem Tuch ab und legte sie auf die Steinplatte. Ihre Hände gehorchten offenbar wieder. Sie griff nach dem Messer, schnitt langsam das erste Stück ab und hoffte, die Köchin beobachte sie nicht. Zuerst quietschte das Scharnier, dann knallte der eiserne Türgriff gegen die Mauer. Ihre Finger umklammerten den Griff des Messers, ließen wieder los und glitten kraftlos an ihrer Schürze entlang. Also doch. Sein dicker Bauch, der Bart und der harte Zagel erwarteten sie. Ihr Magen verkrampfte sich. Es gab keinen Ausweg. Sie war nur ein Bauernmädchen, rechtlos, nichts wert und doch lockte ihre Fut ihn mit aller Macht.
„Komm mit, der Graf meint, du hast eine Pause verdient.“ Das Gelächter des Burgvogts füllte mühelos den hohen Raum. Langsam drehte sich Elsbeth um. Verharrte dort, wo sie stand, errichtete in Gedanken eine Wand vor sich.
„Beweg dich endlich.“ Der großgewachsene Mann schritt die beiden Stufen hinunter, lief auf sie zu. Der lehmige Boden verschluckte den Schall seiner Lederstiefel.
Elsbeth schrie auf. „Lasst mich.“ Fest krallten sich seine Finger in ihren Oberarm. Es gab ja kein Hindernis.
„Mein Herr wartet nicht gerne, wenn er sich nach dem Schoß eines jungen Weibes mit weicher Haut, samtigen Haaren und nicht allzu üppigen, runden Brüsten sehnt.“ Er packte Elsbeth am Kinn und leckte sich über die Lippen. „Womöglich gestattet er mir, mich später gleichfalls ein wenig mit dir zu vergnügen.“
Die Stimme ihres Bruders mischte sich ein. „Elsbeth, ich werde das kein weiteres Mal zulassen.“ Laut hallten seine Worte durch die Küche. Dennoch verstand sie ihn nicht. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzugehen. Die Herren befahlen einer wie ihr und das Leben zwang sie, zu gehorchen. Hans ließ die beiden Hasen, die er an den Hinterläufen hielt, auf die Treppe fallen. Jetzt griff er nach einem Schürhaken. Wozu? So hatte Gott die Welt eben geordnet. Der Burgvogt zerrte an ihr. Da traf der Schlag ihres Bruders dessen Hinterkopf. Der Schmerz löste seine Finger, gab ihren Arm frei.
Er brüllte und fluchte zugleich. „Bastard, du räudiger Hund!“, schrie der Burgvogt seine Wut hinaus, als er kraftlos auf die Knie sackte. Blut lief an seinem Hals herunter, dann fiel er vollends zu Boden.
„Lass uns fliehen.“ Jetzt packte Hans sie am Arm, genauso fest, aber ihm gehorchte sie. „Bleibt hier, ihr kommt nicht weit“, hörte Elsbeth die Köchin rufen, als sie mit ihrem Bruder durch den Raum lief, hinaus zur Tür, quer über den Hof an den Ställen vorbei und mit schnellen Schritten durch das hohe Tor hindurch in eine unbekannte Welt.

* * *

Struppiges Buschwerk mit grünen Blättern und einigen Blüten, die dem Sommer entgegenfieberten, streckte vereinzelte Zweige in den Pfad. Überwuchert von vertrockneten Gräsern, Blütenstauden und stacheligem Gestrüpp, führte er nach Norden. Sie mieden den etwas breiteren Fahrweg um, jetzt schon unweit der Stadt, wie Hans vermutete, möglichst wenig Menschen zu begegnen.
„Hast du die Stimme gehört?“ Abrupt stoppte Elsbeth.
„Ja. Es klingt nach einem Mädchen!“ Beide bewegten sich nicht mehr und sahen den Abhang hinunter. Unten zog der Fluss seine gelassene Bahn.
„Hilfe, bitte. Hört mich jemand?“
„Ja, wo bist du?“
„Neben dem Felsen. Mein Bein, ich habe Schmerzen und schaffe es nicht, aufzustehen.“ Die Stimme klang nach erst vor kurzem getrockneten Tränen.
„Vermutlich liegt sie dort vorn. Rasch, sie braucht unsere Hilfe“, stieß Elsbeth hervor. Sie liefen los und entdeckten das Mädchen gleich darauf hinter einem Haselnussstrauch.
„Ich ..., ich heiße Gundula und war beim Spielen, da ist der junge Fuchs aufgetaucht. Er hat mich so lieb angesehen, deshalb bin ich ihm gefolgt, hier hochgeklettert und dann abgestürzt“, sprudelte es aus ihr heraus.
„Wieso warst du hier allein unterwegs? Wo lebst du?“ Elsbeth kniete sich neben ihr nieder. „Zeigst du mir dein Bein?“ Gundula nickte und wandte den Kopf ab. „Du traust dich nicht, hinzusehen, hm?“ Sie schob das Kleid ein bisschen hoch, das Unterkleid war zerrissen. Die linke Wade des Mädchens war bis zum Knie übersät mit Abschürfungen, Blutergüssen und kleineren Wunden, die nicht mehr bluteten.
„Ich komme aus Hall, das ist nicht so weit weg.“ Sie schien zu überlegen. „Die Eltern haben mir verboten, ohne Agnes oder jemanden aus der Familie die Stadt zu verlassen. Aber die Magd war beschäftigt, weil der Oheim morgen wieder heimkommt. Und meine Mutter Clothilde ist ohnehin ..., lieber für sich allein.“ Die letzten Worte verließen ihre Lippen nur widerwillig.
„Ich bin Elsbeth und mein Bruder heißt Hans.“ Sie sah Gundula an, schätzte ihr Alter auf zehn oder elf Jahre. „Wir bringen dich nach Hause. Schaffst du es, aufzutreten?“ Hans reichte dem Mädchen seine Hand. Die beiden halfen ihr dabei, langsam aufzustehen.
„Es brennt auf der Haut und pocht im Bein. Ich ..., versuche es trotzdem.“
Hans zog seine Tunika aus und wickelte sie zu einem Ring zusammen. „Jeder hält an einer Seite und Gundula setzt sich in die Mitte“, erklärte er. Das Mädchen hielt sich an den Geschwistern fest und ließ sich, sanft geschaukelt, langsam bis zur Stadt tragen. Die Dämmerung saugte die Farbe aus der Landschaft, als sie die Furt über den Kocher am Sulferturm erreichten.
„Was ist euer Begehr zu so später Stund?“, fragte der Knecht der Bürgerwache. Die kleine Abwechslung schien ihm willkommen zu sein.
„Sie bringen mich heim, Roderich. Ich bin verletzt“, sagte Gundula leise.
„Oh, du bist es.“ Der Mann trat zur Seite. „Beeilt euch, damit sich Balthasar und deine Mutter nicht unnötig ängstigen.“
Regungslos und unaufgeregt öffnete sich die Welt hinter der Mauer und schien nicht auf die Neuankömmlinge zu achten.  So sieht es in der Stadt aus. Staunend legte Elsbeth den Kopf in den Nacken, um an den Häusern hochzublicken, die links und rechts der Gasse standen, durch die sie bergan zum Marktplatz gelangten. „Da drüben ist es“, rief Gundula. Sie zeigte auf ein aus dicken Mauersteinen errichtetes, dreistöckiges Haus auf der linken Seite der Kirche. Hans klopfte an die Tür, die sich gleich darauf öffnete.
„Agnes, oh ich bin so froh, wieder hier zu sein.“
„Grüß euch Gott, alle miteinander.“ Die Magd beugte sich zu Gundula hinunter und strich ihr liebevoll über die Stirn. „Es ist spät am Tag. Große Sorgen haben mich geplagt. Wo warst du? Was ist geschehen? Und wer seid ihr?“ Fast überholten ihre Fragen einander.
„Ich bin von einem Felsen gestürzt und Elsbeth und Hans haben mich gerettet.“
„Ein Unfall? Ich danke euch für die Hilfe. Vermutlich kommt ihr nicht aus Hall?“ Agnes musterte die beiden und schob dann alle ins Haus hinein.
„Bitte sag Mutter nichts. Sie erlaubt es mir nicht, alleine wegzugehen“, jammerte Gundula.
„Clothilde hat sich wegen ihrer Kopfschmerzen längst ins Bett gelegt.“
„Vater ist nicht zuhause?“
„Nein, er ist unterwegs.“
„Lässt du mich heute Nacht in der Küche schlafen?“
Die Magd nickte. Sie forderte Hans und Elsbeth auf, sich zu setzen, und stellte Brot, Käse, Wasser sowie einen Krug mit Wein auf den Tisch. „Falls ihr hungrig seid.“
„Mein Magen knurrt schon lange“, sagte Gundula, verzog ihr Gesicht für einen schmerzhaften Moment und griff nach der Scheibe Brot, die ihr Agnes reichte.
„Ich gestehe, meine Neugier lässt sich schwer beherrschen. Woher kommt ihr?“, fragte die Magd und legte ihren Arm um Gundula.
„Wir sind ...“, sagte Hans und stoppte sofort wieder.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, entgegnete ihm Agnes.
„Es ist nur weil ..., wir sind ..., hm, aus Obermühle, das gehört zu Oberrot.“ Elsbeth sprach leise, so als fürchte sie, die Wahrheit, erst einmal ausgesprochen, entfalte genügend Kraft, um sie zurück nach Hause zu spülen.
„Vermutlich hat euch niemand aus eurem Dorf weggeschickt.  Tja, die Stadt lockt die Menschen an, obwohl wenig Platz ist und die Häuser deshalb in die Höhe wachsen. Ihr habt Gundula geholfen und ein Schlafplatz für die Nacht ist euch sicher. Was morgen geschieht, entscheidet die Herrschaft.“
Elsbeths Blick fiel auf die an der Wand eingerichtete, etwa hüfthoch gemauerte Kochstelle, über der ein Feuerhut, wie sie ihn aus der Burgküche kannte, dazu diente, die Funken und einen Großteil des Rauchs einzufangen. Wie viele Menschen in so einem riesigen Haus lebten? Die Magd schob Elsbeth den Käse und ein Messer zu. Sicher ist sie älter als Mutter, überlegte Elsbeth. Trotz des weiten Unterkleids und ihrer Schürze, die sie darüber trug, ließ sich die kräftige Statur erahnen. Die rundliche Form ihres Gesichts wurde von der unter dem Kinn geschnürten Bundhaube auf dem Kopf verstärkt.
„Das Haus gehört den drei Geschwistern Hildebrand, Clothilde und Leodegar von Vellberg“, antwortete Agnes auf die Frage von Hans. „Der Erstgenannte arbeitet als Kaufmann und ist mit Katharina verheiratet. Ihre Tochter heißt Adelheid. Sein Bruder ist verwitwet und Schneidermeister.“
Gundula zupfte Elsbeth am Ärmel. „Wir sind die Heselins. Balthasar und Clothilde sind meine Eltern, so wie ich es unterwegs erzählt habe.“
„Hier wohnen scheinbar gar nicht so viele Menschen, obwohl das Haus von außen riesig wirkt“, wunderte sich Elsbeth.
„Es sind Stadtbürger. Sie verdienen genügend Geld, um sich mehr als eine Kammer einzurichten und den Alltag angenehmer zu gestalten, als es unsereiner vermag. Na, die Küche ist mein Platz. Sowohl bei der Arbeit, wie im restlichen Leben. Und Onno, unser Knecht, schläft, isst und wohnt ebenfalls hier.“
Gegenüber ihrem Sitzplatz entdeckte Elsbeth eine quer durch den Raum verlaufende Bettstatt mit acht Schlafplätzen. Es gab zudem Truhen und Kisten sowie eine Wasserstelle, vor der zwei gefüllte Eimer standen. „Stell dir vor, über uns ist kein Dach, sondern wieder ein Boden auf dem Menschen herumlaufen und wenn sie zur Decke sehen, sind darüber weitere Räume“, flüsterte Elsbeth und lehnte sich an Hans Schulter. „Hast du dir die Stadt so vorgestellt?“ Sie nahm sich ein Stück Brot.
„Hm, so ähnlich. Aber nur in meiner Fantasie. Das Leben hat uns ja nie zuvor von zuhause weggeführt.“
Agnes sah die Geschwister und Gundula der Reihe nach an. „Falls ihr satt seid, schlage ich vor, wir begeben uns allmählich zur Ruhe. Hinter uns allen liegt ein langer Tag.“ Niemand widersprach und so räumte sie die Speisen zurück, bevor sie Gundula half, sich auszuziehen und auf ihren Platz zu legen.
„Was liegt da in der Bettstatt?“, fragte Elsbeth. „Gibt es kein Stroh?“
„Schon, aber es steckt in den Leinensäcken. Wir besitzen sie seit einigen Wochen. Es schläft sich bequem darauf. Sie kratzen nicht, wie du bemerken wirst.“ Agnes lächelte ihr zu und reichte ihr eine Wolldecke. „Der Platz neben deiner Schwester gehört dir“, sagte sie zu Hans. Gundula lag zwischen der Magd und Elsbeth, die bald darauf die gleichmäßigen Atemzüge des Mädchens vernahm und selbst in einen von Träumen beherrschten Schlaf fiel.


* * * 

Ein hagerer Mönch öffnete die schwere Holztür am Ende eines düsteren, modrig-feucht atmenden Gangs für den Neuankömmling. Dieser trug den weißen Habit der Dominikaner und ließ die Perlen des großen Rosenkranzes an seinem Ledergürtel haltsuchend durch seine Finger gleiten. Beide betraten den Raum. „Ehrwürdiger Bischof, der Abgesandte des Konvents aus Frankfurt, Pater Christian, ist eingetroffen.“ Nur spärlich erhellten die flackernden Kienspäne in den eisernen Wandhalterungen das weitläufige Kellergewölbe der bischöflichen Residenz in Würzburg. Sein Blick fiel zuerst auf den in Hand- und Fußschellen an die Wand geketteten Mann, bevor ihn der Bischof mit seinem Gruß und einem zurückhaltenden Lächeln auf sich lenkte und ihn mit ausgebreiteten Armen begrüßte.
„Es ist mir eine Freude, dich hier zu sehen. Ich danke dir für die Unterstützung und hoffe, die weite Anreise ist ohne Zwischenfälle verlaufen?“
Der Pater nickte. „Als gehorsamer Diener Gottes bin ich ihrem Ruf ohne zu zögern gefolgt. Es entspricht meinem tiefsten Wunsch, die Abtrünnigen, die unserer heiligen Kirche den Rücken kehren, wieder auf den rechten Weg zurückzuführen. Ich bin bereit, dafür Opfer zu bringen.“
„Das höre ich mit Freude. Die Aufgabe wird deine ganze Kraft erfordern, denn es gilt, die Inquisitio mit der gebotenen Sorgfalt zu leiten“, sagte der Bischof.
„Zweifellos stehen für mich die formalen Regeln während der Untersuchung an oberster Stelle“, erwiderte Pater Christian. Verunsichert suchten seine Augen den Boden ab. „Daher bin ich gespannt darauf, wie die von ihm angedeutete Unterstützung des Verhörs durch ungewöhnliche Methoden aussieht, die mir zu zeigen ihr heute beabsichtigt.“ Seine Stimme verlor bei jedem Wort ein wenig mehr von ihrer Lautstärke.
„Manchem fällt die Einsicht in seinen Irrglauben schwer. Zugleich leiden diese bedauerlichen Kreaturen darunter, Gott nicht mehr nahe zu sein.“
Pater Christian sah erneut zu dem Gefangenen, dessen Cotte am Boden lag und der nur die zerrissenen Überreste seines grauen, aus grobem Leinen gefertigten Unterkleids trug. Dunkelrote Striemen verliefen schräg über seinen Rücken. Kurz hakten sich dessen Augen in die von Bruder Christian, der erschrocken seinen Blick senkte. Der Bischof zog ihn jetzt nah zu sich heran.
„Meine Absicht besteht darin, der Suche nach der Wahrheit ein wenig Nachdruck zu verleihen, um es den Betroffenen zu erleichtern, den Weg aus der Verdammnis zu finden“, sagte der Bischof.
„Liegt darin nicht ein Widerspruch zu den Direktiven des Heiligen Vaters?“
„Im Vertrauen gesagt, ein von mir geschätzter Mitbruder aus Rom berichtet, dass Papst Innozenz einen neuen Erlass vorbereitet, um uns treuen Dienern bald schon jene Freiheiten zu gewähren, die wir brauchen, um die Wahrheit gezielter ans Licht zu holen. Es gibt Fälle, in denen wir nur so das Seelenheil der Ketzer zu retten vermögen!“ Der Bischof nickte dem Gehilfen zu, der den Ochsenziemer einsatzbereit in der Hand hielt.
„Ich verstehe. Darauf gründet euer Entschluss, vorzeitig diese Mittel einzusetzen. Ich nehme an, ihr habt alle Vor- und Nachteile für die Entscheidung gegeneinander abgewogen? Nun, im Grunde liegt es uns einzig und allein am Herzen, die Ketzer vor der Hölle zu bewahren“, sagte der Pater. Der durchdringende Aufschrei des Gefangenen traf ihn wie ein Faustschlag im Magen und er beschloss für sich selbst, bei der Inquisitio solche Mittel nur im äußersten Notfall zuzulassen.
* * * 


Die Köchin schluchzte, als Elsbeth aus der Küche stürmte, um das Zimmer des Grafen aufzusuchen. Sie selbst verstand nicht, was geschah. Ihr Kopf befahl ihr, anzuhalten, doch die Füße gehorchten nicht, liefen weiter, quer über den Hof durch den breiten Eingang ins Haus. Im langen Flur ergriff sie die Türklinke seines Zimmers. In diesem Moment schreckte Elsbeth hoch. Sie starrte in das fahle Licht, das der frühe Tag von einem wolkenverhangenen Himmel in den Raum schickte und nahm dann ein leises Weinen neben sich wahr. Ihr pochendes Herz und schweißnasse Hände bezeugten ihre Furcht, die sich rasch in Erleichterung verwandelte. Nur ein Traum, sie war in Hall. Mit dem Blick auf das Mädchen kehrte die Erinnerung an gestern zurück. „Tut es dir weh?“, flüsterte Elsbeth. In diesem Moment setzte sich Agnes ebenfalls auf und streichelte Gundula über den Kopf. „Es ist wichtig, die Wunden zu behandeln“, sagte Elsbeth. „Je schneller und besser sie heilen, desto eher verabschieden sich die Schmerzen.“
„Ich werde den Bader holen.“
„Nein, bitte Agnes, dann erfahren es die Eltern.“
„Wenn es recht ist, stelle ich selbst ein Pulver her und lege ihr einen Verband an“, schlug Elsbeth vor.
„Du?“
„Ja, meine Kenntnisse sind bescheiden, aber ausreichend. Gibt es Weihrauch, Myrrhe und Osterluzei im Haus?“
„Hm, du scheinst zu wissen, wovon du sprichst. Die ersten beiden Zutaten finden sich in der Speisekammer, nur die Luzei nicht“, erklärte Agnes und beugte sich über Gundula. „Beim neuen Badhaus bietet eine Kräuterfrau allerlei der Heilkunst förderliches Gewächs an. Dort werde ich sicher fündig.“ Sie zog sich rasch an und verabschiedete sich. „Es ist besser, keine Zeit zu verlieren. Ich beeile mich. Es wird nicht lange dauern. Pass auf Gundula auf, ja?“
Nach dem kurzen Zwischenspiel kehrte erneut die Ruhe der Morgenstunde ein, bis die Hand des Mädchens langsam den Weg zu ihr fand.
„Danke für deine Hilfe“, sagte Gundula leise.
„Du brauchst dich nicht bedanken. Ich hoffe, es nützt etwas.“ Elsbeth ließ ihre Gedanken in den ungewissen Tag hinein schweifen. Wo würde dieser für sie und Hans enden? Die Glocke im Turm der Haller Stadtkirche St. Michael schlug die siebte Stunde, als Agnes zurückkehrte.
„Jetzt haben wir alles beisammen. Fang gleich an“, forderte die Magd sie auf.
Rasch und mit geübten Bewegungen zerkleinerte Elsbeth die Zutaten für ihr Wundpulver mit einem Mörser. „Ich brauche ein leinenes Tuch. Ach ja, bringst du mir den Wein von gestern Abend?“
„Wer verlangt so früh am Morgen nach Rebensaft?“ Eine tiefe Männerstimme erfüllte die Küche.
„Herr, das ist ...“, Agnes sprach nicht zu Ende.
„Gundula, da bist du ja! Ich habe dich gesucht, dein Bett war leer. Hast du wieder einmal in der Küche geschlafen?“
„Ja Vater, du warst nicht da und Mutter hatte Kopfschmerzen.“
„Hm, Hauptsache du bist hier im Haus. Und wen gelüstet es nach Wein zum Frühstück?“
„Ich ..., es handelt sich um mich, aber der ..., ähm ..., der ist nicht zum Trinken“, stammelte Elsbeth.
„Das sind Elsbeth und Hans“, rief Gundula. „Von gestern. Sie haben mich ..., heimgebracht. Bitte sag Mutter nichts!“ Erst jetzt beugte sich Balthasar über die Schlafstatt und sah das Bein seiner Tochter.
„Oh Gott! Wie ist das passiert? Die Haut ist aufgerissen und blutverkrustet. Habt ihr den Bader gerufen?“
„Nein, es ... hat nicht gepasst.“ Agnes zögerte.
„Das ist meine Schuld, er hätte dich und Mutter verständigt.“ Gundula sah ihren Vater mit weit geöffneten Augen bittend an. „Ihr habt es mir doch verboten“, fügte sie leise hinzu. „Die beiden haben mich gefunden und hierher zurückgetragen, weil die Schmerzen beim Laufen zu groß waren. Und jetzt macht mir Elsbeth einen Verband, dann ist bald alles verheilt“, erklärte Gundula überzeugt.
„Das hast du angeboten?“, fragte Balthasar. „Mir scheint, ihr habt es auf eine vernünftige Art geregelt. Na, dann schulde ich dir und deinem Mann zuallererst meinen großen Dank“, sagte er. Als Agnes eine Schüssel mit Wein auf den Tisch stellte, drehte er sich zu Elsbeth. „Du kennst dich mit Wunden aus? Wo hast du dein Wissen erworben?“
Sie sah Gundulas Vater in das kantig wirkende, schmale Gesicht. Es schien ihr so, als betrachtete er sie in diesem Moment offen und zugleich zweifelnd. Sein hervorstehendes Kinn wirkte, als lasse er sich ungern von jemand belehren. „Ich habe in meiner Kindheit daheim oft bei einem alten Feldscher in der Kate gesessen, er hat mir von seinen Erlebnissen beim Heer erzählt. Es gibt keinen Grund, sich wegen Gundula zu sorgen.“
„In Ordnung, ich vertraue dir. Woher stammt ihr beiden?“
„Es ist anders, sie ist nicht meine Frau ..., wir sind Geschwister und kommen aus Obermühle, das gehört zur Herrschaft der Herren von Rot“, mischte sich Hans in das Gespräch ein. Seine Schwester krempelte die Ärmel ihres Unterkleids hoch, bevor sie das Leinentuch in die Schüssel mit Wein tauchte und auswrang. Sorgfältig verteilte sie das Wundpulver mit den Fingern darauf und strich es glatt.
Aufmerksam verfolgte Balthasar ihre Bewegungen. „Ich nehme an, ihr zwei wart nicht zufällig auf dem Weg nach Hall?“ Gundulas Vater wandte sich für einen Moment seiner Tochter zu und musterte dann Elsbeth und Hans abwechselnd. „Aber nein, ihr beide schuldet mir keine Antwort. Wie gesagt, ich bin euch zu großem Dank verpflichtet. Ihr benötigt vermutlich Unterstützung, dabei bin ich gern behilflich.“
Jetzt kniete sich Elsbeth zu Gundula an die Schlafstatt und schlug die Decke vollends zur Seite. „Agnes, hilfst du mir dabei, das Bein ein wenig anzuheben?“ In gleichmäßigen Bahnen wickelte sie den Verband um den Oberschenkel und über das Knie bis zur Wade hinunter, bevor sie das Mädchen vorsichtig wieder zudeckte und sich die Hände wusch.
„Danke, du bist lieb“, sagte Gundula.
„Agnes? Agnes!“ Die Stimme klang schrill. In der Tür erschien der dazugehörige Kopf. „Ich bin auf der Suche nach meinem Mann und das Kind ist nicht in seiner Kammer.“
„Sie ..., sie sind beide hier“. Elsbeth schien es so, als antworte die Magd widerwillig.
„Kein Grund zur Aufregung, Clothilde.“ Balthasar versuchte offenbar, seine Frau zu beruhigen, die in ihrem roten Oberkleid aus feinem Samt mit gestickter Brokat-Bordüre sowie dem mit kleinen Perlen besetzten Gebende, das ihre Haare sorgfältig verdeckte, auf Elsbeth wie ein Fremdkörper in der Küche wirkte. „Sie kränkelt ein wenig und daher hat sie hier geschlafen.“ Gundula sandte ihrem Vater ein kurzes Lächeln.
„Ach so ist das. In dem Fall ist es besser, wenn du hier bist. Mir pocht der Schmerz in den Schläfen. Dein Vater ist wie üblich beschäftigt und am liebsten außer Haus unterwegs.“
„Die Anmerkung verstehe ich nicht!“ Balthasars Versuch zu flüstern misslang.
„Dir ist klar, worauf ich anspiele. Immerzu besuchst du Freunde von dir wie diesen Färber, um ihnen deine abwegigen Ansichten über Gott zu erklären. Das stimmt doch, nicht wahr? Vermutlich versichert ihr euch gegenseitig, wie gering ihr unsere heilige Kirche schätzt!“ Die Vorwürfe klangen für Elsbeth so, als habe Clothilde sie schon oft wiederholt.
„Schweig sofort, Weib! Rede nicht über Angelegenheiten, die du nicht verstehst und die dich nichts angehen“, rief Balthasar zornig.
Clothilde verstummte und entdeckte erst jetzt Elsbeth, die reglos neben ihrem Bruder in der Küche stand. „Wer bist du? Und was hast du hier zu suchen?“
„Das ist Elsbeth, meine Schwester. Ich heiße Hans.“
„Warum antwortet sie nicht selbst? Hm, sicher ist es nötig, langsamer zu sprechen. Ihr seht aus wie Bauern, denen fehlt es am Verstand.“
„Lass sie in Ruhe“, fauchte Balthasar. „Es sind zwei freundliche Menschen und sie haben vor, für uns zu arbeiten. Die Einzelheiten regle ich mit Hildebrand.“